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Sicherheitskapitel – Was wirklich zählt!

Geschrieben von Carsten Sieber | 4. Februar 2019 05:00:00 Z

Die primäre Funktion des Kapitels "Sicherheit" ist die, die Zielgruppe(n) über real verbliebene Restrisiken zu informieren.

An dieser Stelle sollte der Blogbeitrag an sich zu Ende sein. Alles, was jetzt noch kommt, verwässert die Deutlichkeit der Aussage und die Dringlichkeit des Anliegens. Die entsprechende akademische Unterfütterung wiederum würde mehrere Seiten in Anspruch nehmen und so den Umfang dieses Blogs sprengen. Dennoch wage ich den Spagat und gebe etwas Konsequenz und Plakativität preis zugunsten einiger Erfahrungswerte aus nunmehr über 15 Jahren Anforderungsmanagement und mehr als 10 Jahren Qualitätssicherung.

Sämtliche relevanten Regelwerke eint das Anliegen, die Konsumenten von Benutzerinformationen angemessen zu informieren. Diese zugegeben recht allgemeine Forderung schließt das Kapitel "Sicherheit" per se bereits mit ein. Etliche Regelwerke und Publikationen gehen dann noch einen Schritt weiter und definieren erforderliche Mindestinhalte (oder Maximalinhalte) für das Kapitel "Sicherheit", wobei sich naturgermäß große thematische Überschneidungen ergeben, die aber bei Weitem nicht so ausreichend konsolidiert sind, als dass sie leicht in eine Art Checkliste oder Soll-Gliederung überführt werden könnten. In der Konsequenz sieht sich der Anforderungen managende Redakteur unverschuldet einer unschönen Akademisierung und Standardisierung seines vormals hochkreativen Berufsbilds gegenüber, die nicht nur der Kunst des möglichst smarten Informierens entgegensteht, sondern die ihn zudem in trügerischer Sicherheit wiegt, es ginge vor allem um das wie auch immer geartete Befüllen einer mehr oder weniger fixen Struktur.

Diejenigen, die das "wie auch immer geartete Befüllen" empfohlener Standard-Sicherheitstopics nicht befriedigt, arbeiten sich tiefer in die zur Verfügung stehende Literatur ein und laufen einmal mehr Gefahr, sich weiter von der eigentlichen Unterweisungspflicht zu entfernen und in formalen Fragestellungen zu verzetteln: Denn jenseits der inhaltlichen Forderungen der Regelwerke setzen Kommentierungen und Fachpublikationen an und ergänzen redaktionelle Empfehlungen, die der Zielgruppe schlichtweg egal sein dürften. Dabei beziehe ich mich beispielsweise auf die leidige Unterscheidung zwischen "Sicherheits-" und "Warnhinweisen" oder damit einhergehend zwischen "allgemeinen Gefahren" und "Gefahren im handlungsspezifischen Kontext" oder auf 2-seitige Darstellungen der in der Anleitung angewandten Konventionen, die wohl nicht so selbsterklärend (also "smart") sind, wie sie sein sollten, wenn sie derart ausführlich erklärt werden müssen. Ich halte die Entwicklung tatsächlich für dramatisch: Derartige, auf den zweiten Blick wenig eindeutige formale Forderungen verlangen uns Auslassungen ab, wo es gerade um Vollständigkeit ginge, suggerieren Klarheit und schaffen stattdessen Konfusion oder fordern ausgerechnet dort Einfachheit, wo es gerade darum ginge, Komplexität und Wechselwirkungen erhellend, aufrichtig und vor allem so früh wie möglich aufzuzeigen.

In der Folge werden die richtigen Topics schlichtweg falsch befüllt: Was nützt beispielsweise ein möglichst generischer Hinweis im Kapitel "Sicherheit", der pauschal vor bewegten Teilen (alternativ vor heißen Oberflächen oder vor Strom) warnt und als Abhilfe ein Abschalten der Maschine empfiehlt, gleichzeitig allerdings verschweigt, dass trotz abgeschalteter Maschine eine schwere Achse gefährlich absinken kann, wenn sie nicht an bestimmten Stellen abgesteckt wurde (alternativ: dass der Flüssigkleber trotz abgeschalteter Maschine eben doch heißgehalten wird, um die Zeiten fürs Wiederanlaufen kurz zu halten, oder dass die Komponenten bei NOT-AUS oder trotz abgeschalteter Maschine bestimmungsgemäß oder nicht zuletzt aufgrund einer an anderer Stelle geforderten USV weiter unter Strom stehen)? Was nützt die gleiche pauschale Anweisung zum Ausschalten der Energieversorgung im Kapitel "Störungsbehebung", wenn ein Großteil der Störungen nur bei eingeschalteter Maschine behoben werden kann? Richtig: nichts. Im Gegenteil: Solche allgemeinen Hinweise zu allgemeinen Gefahren stumpfen den Leser nur ab und suggerieren das Gegenteil von dem, was richtig und wichtig wäre.

Spätestens wenn Ihre Sicherheitshinweise oder Teile davon, z. B. die Schilderungen der möglichen Folgen oder deren Abhilfen, auf jede Maschine der Welt passen würden, ist etwas schief gelaufen.

Was also tun?

Jedes Produkt, jede Zielgruppe, jede Anwendungssituation ist anders. Nachfolgend erlaube ich mir dennoch ein paar wichtige Empfehlungen auszusprechen, die übergreifend angewandt werden können und die dem ursprünglichen Ansinnen der Gesetzgeber und Normenersteller näher kommen dürften:

Organisatorisch:

  • Verstehen Sie Risikoanalyse wesentlich vollumfänglicher als bisher und ziehen Sie aus dieser die richtigen Schlüsse! Verlassen Sie dabei vollständig die Herstellerperspektive und nehmen Sie exklusiv die Nutzerperspektive ein! Arbeiten Sie dafür aktiv mit Repräsentanten der Zielgruppe.
  • Stellen Sie Effizienzerwägungen hinten an, das Kapitel "Sicherheit" ist definitiv der falsche Ort dafür.

Redaktionell:

  • Warnen Sie vor den real verbleibenden Restgefahren (das meint sämtliche verbleibenden Restgefahren). Verwirren Sie die Leserschaft nicht mit beliebigen und nicht trennscharfen Unterscheidungen zwischen allgemeinen und besonderen Gefahren. MERKE: Die Zielgruppe sind keine studierten technischen Redakteure. Die Zielgruppe kann mit all den Konventionen und Formalia recht wenig anfangen. Für die Zielgruppe muss die Anleitung, also auch das Kapitel "Sicherheit", einfach nur funktionieren.
  • Leiten Sie die Restgefahren nachvollziehbar und leicht verständlich her. Plausibilisieren Sie Ursachen, Folgen und Abhilfen gleichermaßen. 
  • Priorisieren Sie die Restgefahren weise (höherer Unbekanntheitsgrad geht vor) und lassen Sie Allgemeinbekanntes einfach weg. Sensibilisieren Sie durch "De-Desensibilisieren"!
  • Stellen Sie sich der großen Herausforderung, komplexe sicherheitstechnische Zusammenhänge sauber und nachvollziehbar zu dokumentieren. Zeigen Sie Wechselbeziehungen und Abhängigkeiten sauber auf. Bagatellisieren Sie nicht unter dem Deckmantel der vermeintlichen Zielgruppenadäquatheit. Weglassen ist leicht, steht aber einerseits dem zugegeben abstrakten Konzept der "Instruktionspflicht" entgegen und befriedigt auch nicht die Wissbegierde derjenigen, die die Benutzerinformation bemühen, um Wissens- oder Verständnislücken zu schließen.
  • Beschreiten Sie inhaltlich, konzeptionell und redaktionell unbedingt neue Wege. Warum nicht mal bereits auf Seite 3 konkret werden? Warum nicht mal mit einer Überschrift "Was auf keinen Fall eintreten darf?" arbeiten? Warum nicht mal "Restrisiken", "Gefahrenbereiche" und "Persönliche Schutzausrüstung" in einem Topic miteinander verheiraten? Warum nicht mal versuchen, "Restrisiken" oder "Gefahrenbereiche" zu illustrieren? Um eindringlich vor den wenigen wirklich wichtigen Dingen zu warnen, ist nahezu alles erlaubt!

Halten Sie die unter diesen Maximen neu erstellten Inhalte dann in zweiter Instanz gern gegen die Normeninhalte und pflegen Sie die Anforderungen, die nicht bereits ohnehin erfüllt wurden, den obigen Erstellungsprinzipien treu bleibend ein. Sie werden feststellen, dass gar nicht mehr so viel zu tun sein wird. Denn wie eingangs erwähnt, eint ja alle Regelwerke ein und dasselbe Anliegen, die Zielgruppe passgenau, didaktisch wertvoll und navigationstechnisch optimiert zu erhellen.

Übrigens I: Die vielfach angestrebte und nie erreichte "Rechtssicherheit" wird eher indirekt erlangt, indem der Zielgruppe nämlich real weniger passiert oder Usability-Experten im Ernstfall konstatieren müssen, dass man es (didaktisch) nicht hätte besser lösen können.

Übrigens II: Die Notwendigkeit autarker und gleichzeitig immer kürzerer Topics wird ohnehin perspektivisch dafür sorgen, dass konkrete Quintessenzen den nichtssagenden Standard endlich ablösen werden.

Übrigens III: Sämtliche anderen Kapitel jenseits des Kapitels "Sicherheit" dürfen Sie auch gern dem Prinzip der unbedingten Zielgruppenadäquatheit unterwerfen – das hilft bei der tagtäglichen Entscheidungsfindung (Muss das rein – ja oder nein? Wenn ja, in welcher Tiefe?) ungemein!