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Technologiegläubige aller Länder, vereinigt euch!

Drei Kriterien, die digitale Informationskonzepte fliegen lassen.

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Technologiegläubige aller Länder, vereinigt euch!

Keine Sorge. Wir möchten keine Partei gründen und auch keine neuen politischen oder ökonomischen Theorien prägen, in denen Technologie zur kollektiven Problemlösung wird. Stattdessen möchten wir von einem Phänomen berichten, das sich in vielen industrienahen Unternehmen – oft genug auch bei uns selbst – beobachten lässt.

Ein fiktives Beispiel, wie es sich in einem beliebigen Industrieunternehmen in Deutschland abspielen könnte: Ein typischer Konferenzraum. Ein langer Tisch mit fünf bis zehn Personen, Raufasertapete an den Wänden, Metaplanwand und Flipchart in den Ecken. Ein Großbildfernseher zeigt eine Folie mit großen Lettern: „Workshop: Industrie 4.0 bei der XYZ GmbH“.

Der Moderator breitet die anstehenden Herausforderungen des Markts vor den Teilnehmern aus und führt den härter werdenden Wettbewerb ins Feld, bevor es an das Lösungs-Brainstorming geht. Dann geht es los mit dem Technology Dropping: Augmented Reality, Smart Glasses, Artificial Intelligence, Digital Twin, Deep Learning, Voice Assistant sind die Begriffe, die in den Raum gerufen oder auf Karten notiert werden. Eine mehrheitsfähige Technologie kristallisiert sich heraus. Eine plakative Anwendungsmöglichkeit für die eigene Firma wird entworfen. Verschiedene Firmen werden eingeladen, die verheißungsvollsten werden mit einem Proof of Concept beauftragt und so weiter.

Dieses Vorgehen kann funktionieren, scheitert aber oft und dann wird den Technologien die Schuld gegeben. Dabei sind sie zwar meist Bestandteil der Lösung, aber fast nie selbst die Lösung. Rückblickend müssen Konzepte für eine erfolgreiche Umsetzung oft drei Hürden nehmen:

Zunächst muss der richtige Use Case her. Zwar werden Einsatzmöglichkeiten diskutiert, aber oft auf Grundlage dessen, was man über die Technologien gesehen oder gehört hat. Dabei handelt es sich meist um Marketingmaterial der Technologieanbieter selbst. Die haben ihrerseits Annahmen getroffen und suggerieren, dass sie die Use Cases kennen und genau ihre Umsetzung eine entscheidende Effizienzsteigerung herbeiführt. Das ist zwar legitim, bringt aber unser Industrieunternehmen nicht weiter. Welche Use Cases überhaupt das Potential bieten, die Effizienz so weit zu steigern, dass dies die Einführung der Technologie rechtfertigt, das muss jedes Unternehmen penibel ermitteln – entweder alleine oder mit externer Hilfe.

Als Beispiel für einen schlechten Use Case kann das Fire Phone des Internetgiganten Amazon herangezogen werden. Amazon wollte dieses Smartphone 2014 als „iPhone-Killer“ am Markt platzieren. Unter anderem das Feature „Dynamic Perspective“ sollte den Durchbruch bringen, indem es aus fast jedem Winkel 3D-Ansichten ermöglichte. Leider gab es kaum Use Cases und Anwendungen für dieses Feature. Zusätzlich litt mutmaßlich die Akkulaufzeit darunter, so dass die Produktion des Fire Phone letztlich eingestellt wurde.

Das zweite Kriterium: Die Zielgruppe muss betrachtet werden. Eine simple Erkenntnis, die sich leider nur schwer durchsetzt. Soll beispielsweise ein sinnvoller Use Case gefunden werden, der die Serviceeinsätze an einem Maschinenpark effizienter macht, müssen die Servicetechniker einbezogen werden. Es hilft niemandem, wenn sich im Konferenzraum alle einig sind, aber Lösungen etabliert werden, die „im Feld“ nicht helfen.

Produkte und Dienstleistungen, bei denen die Zielgruppe nicht berücksichtigt wurde, finden sich reichlich: beispielsweise der „Portable Baby Cage“, erfunden vermutlich in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Damit sollten auch Kinder in balkonlosen Großstadtwohnungen in den Genuss von reichlich frischer Luft kommen. Die Zielgruppe – die sorgenvollen Eltern – konnte sich aber offensichtlich nicht dauerhaft für diese Idee begeistern.

Die letzte Hürde: Technologien dann verwenden, wenn sie den richtigen Reifegrad für die eigenen Use Cases erreicht haben. Das IT-Marktforschungsunternehmen Gartner Inc. veröffentlicht jährlich den Hype Cycle for Emerging Technologies. Die Kernbotschaft: Technologien geraten irgendwann in den Fokus der Aufmerksamkeit und bauen als Hype-Thema überzogene Erwartungen auf, die sie (noch) nicht erfüllen können. Finden die Menschen das heraus, dann verschwindet die Technologie in einem Tal der Enttäuschungen. Aus diesem Tal führen zwei Wege heraus: Die Technologie entwickelt sich weiter und kann die einst überzogenen Erwartungen doch noch erfüllen oder die Erwartungen werden realistischer und die Technologien werden in einem anderen Zusammenhang eingesetzt und erreichen so den produktiven Einsatz.

Der Reifegrad der Technologie muss also zu den eigenen Use Cases passen. Es ist daher unerheblich, ob die Technologie gerade in allen Medien diskutiert wird oder bereits abgeschrieben wurde. Erfüllt die Technologie die Anforderungen der Zielgruppe und löst die eigenen Use Cases, hat sie den richtigen Reifegrad.

So half es auch Apple nicht, dass sie schon früh einen Tablet-PC – den Apple Newton – präsentierten. Ohne digitale Geschäftsmodelle, mobile Datenverbindungen und die Bedeutung des Internets zu Zeiten der ersten wirklichen Smart Devices konnte die Technik sich nicht etablieren.

 

Christopher Rechtien
Autor:
Blog post Christopher Rechtien